Der Auslöser, nun endlich Indien kennen lernen zu wollen, hatte einen Namen: Anuja Nawathe.
Anuja, die mit ihrem fröhlichen Charakter und diplomatischen Instinkt unsere Familie vom Dezember 2003 bis Juni 2004
geistig, kulturell und zahlenmäßig bereicherte, lud uns in ihre Heimatstadt Pune (Poona) ein. Ein nicht ganz
entschlossener Mausklick half, den Reifeprozeß für unsere Entscheidung abzukürzen. Bei einem Rückzug hätten wir
schmerzliche finanzielle Verluste erlitten. Da wir nun einmal in den elektronischen Zahlungsablauf fest eingeknotet wurden,
organisierten wir den Rest: Reiseführerkauf, Impfen im Tropeninstitut, Erneuern von Passbildern, Beantragen von Visen
(pro Nase 50 Euro, auch für kleine Nasen), Beschaffen einiger US-Dollar (Euros tun's aber auch),
Besorgen von Fahrkarten nach Berlin und Erarbeiten von Havarieplänen für unsere Kinder bei eventuellem Wasserrohrbruch,
Heizungs- oder Stromausfall im Haus.
Lena, mit 11 unsere jüngste Tochter, durfte mit den peinlich alten Eltern mit, da sie zu Anuja ein Große-Schwester-
Verhältnis gefunden hatte und zudem noch für den halben Preis flog. Hermann (21), Hannes (18) und Lore (16) blieben
zurück und trösteten sich schnell mit schnellen Einladungen zum Feiern im elterlosen Haus über den Trennungsschmerz
hinweg. Am 27.01.05 gegen 0.30 Uhr startete unser Flieger in Berlin mit einem aeroflotten Service ins minus 11 Grad kalte
Moskau, wo wir planmäßig 10 Stunden die polsterlose Möblierung im Flughafen Scheremetjewo II auskosten durften. Mit dem
guten Gefühl, für ein lohnenswertes Flug-Schnäppchen alle Unbequemlichkeiten rechtfertigen zu können, stiegen wir
geschlaucht und übermüdet in eine halbvolle Tupulew, die uns schließlich nach einer robusten Landung, bei der alle
Rücklehnen der leeren Sitzplätze nach vorn klappten, gegen 0.30 Uhr auf 25 Grad warmen indischen Boden in Bombay aufsetzte.
Obwohl wir uns auf Indien und seinen Linksverkehr mental vorbereitet hatten, schockte es uns doch, dass im Zubringerbus
plötzlich der mit Turban und entschlossenem Gesicht ausgestattete Beifahrer die Bremsen löste und losfuhr. Im Flughafen
konnten wir uns von dem hohen Anteil der Inder an der Weltbevölkerung überzeugen. Trotzdem fanden wir unsere Koffer und
kämpften uns durch die zahlreichen weisungsberechtigten Uniformträger.
Herr Nawathe, Vater von Anuja, stand mit Auto und Fahrer bereit und fischte uns mit einem Schild aus der Menschenmasse. Auf
dem Weg durch die nächtliche 18 Millionen-Einwohner-Metropole nach Pune (170 km von Bombay entfernt) beeindruckten uns neben
den vielen streunenden Hunden die kilometerlangen Slums, die aus zusammengetragenem Holz, Wellblech und Lumpen bestanden. An
den unbefestigten Straßenrändern lagen Menschen im Dreck. Gegen 4.00 Uhr indischer Zeit (4,5 Stunden später als MEZ) trafen
wir in Pune ein. Anuja und ihre Mutter empfingen uns in der Wohnung von Nawathes. Nach einem guten halben Jahr der
Entwöhnung war die Wiedersehensfreude groß. Nach einem kurzen Gespräch übermannte uns aber doch die Müdigkeit.
Am nächsten Tag lernten wir den indischen Verkehr bei einer kleinen Stadtrundfahrt kennen. Fahrräder, Mopeds, dreirädrige
Motor-Rikshas, Autos, LKW´s und Busse, deren Baujahre bis auf wohltuende Ausnahmen mit dem Geburtsjahr des Fahrers identisch
schienen, drängten sich vorfahrts- und fahrspurenverachtend und fröhlich hupend durch die verstopften Straßen. Es wird um
jeden Zentimeter gekämpft, jedoch im letzten Augenblick des bevorstehenden Crashs Respekt erwiesen. In der Motor-Riksha wäre
es uns locker gelungen, den auf Tuchfüllung rollenden Mopedfahrern während der Fahrt die Zündschlüssel zu entfernen. Auch
die heiligen Kühe hatten nichts zu lachen. Einmal in Gang gesetzt, traben sie zwar gemächlich über eine Kreuzung, doch
werden sie so eng umfahren, dass sie sich stets Sorgen um ihre Ohren machen müssen.
Zum Abend wurden wir von Nawathes zum Abendessen ins Bombay Brasserie eingeladen. Kabab, scharfes Hühnchenfleisch in
mehreren Variationen, Reis und dazu ein herrlicher indischer Rotwein machten uns gesprächig, randvoll satt und mit der sehr
vielfältigen indischen Küche vertraut.
Am anderen Morgen besuchten wir den Markt, um dort exotische Früchte und die begehrten Gewürze, kennen und schätzen zu
lernen. Die bunte Palette aus Menschen, frischem Obst, Gemüse und Gewürzmischungen faszinierte uns, zumal Verkäufer und
Preise sehr freundlich waren. So kostete beispielsweise eine ausgewachsene und saftige Ananas 20 Cent. Selbst die sonst
unbezahlbaren Safran-Fäden waren erschwinglich.
Am Nachmittag besuchten wir Anujas Vater anlässlich seines Geburtstages in
seinem Büro. Herr Nawathe ist Architekt, beschäftigt ca. 50 Mitarbeiter und plant gleichzeitig etwa 120 ehrgeizige Projekte
insbesondere Geschäftshäuser in der 4 Millionen-Stadt Pune. Dabei besteht das Büro neben seinem Arbeitszimmer mit Empfang
aus drei ca. 30 m² großen Räumen, in denen sich etwa 15 Leute in jedem Raum befinden und an ihren Computern zeichnen,
rechnen und kalkulieren.
Danach führten wir letzte Absprachen in dem Reisebüro, in dem Nawathes eine Reiseroute für uns in den Süden Indiens organisiert
und gebucht hatten. Um das erste Ziel Goa am arabischen Meer in ca. 380 km zu erreichen, stiegen wir am Abend in einen Bus
ein, der nur wenige Jahre alt schien und mit Klimaanlage ausgerüstet war. Auf der 11-stündigen kurvenreichen Strecke (mit
Pausen) raste der Fahrer scheinbar um sein Leben. Wie eine gesenkte Sau überholte er laut hupend kleinere Fahrzeuge,
gegnerische Busse tauchten vor uns immer wieder im Großformat auf. Nebenbei lief noch ein indischer Schmachtfilm, der das
vereinzelte Schnarchen von Fahrgästen reichlich übertönte und die Klimaanlage, die zu oft und zu lange von Hand zugeschaltet
wurde, verschaffte uns ein eisiges Frösteln sowie abgestorbene Eisbeine. Weit nach Mitternacht fielen wir in einen unruhigen
Kälteschlaf.
Am 29.01., gegen 7.00 Uhr Ortszeit erreichten wir die portugiesisch geprägte Stadt Goa. Direkt am Meer liegt das phantastisch
gepflegte Hotel Nanu Resort, in dem wir uns zwei Tage in einem Ferienhaus mit Blick auf Palmen und großzügigen Swimmingpool
entspannen sollten. Als wir dem Weg zum Meer folgten, lernten wir innerhalb weniger Minuten die wichtigsten drei Herrscher
des Strandabschnitts kennen. Und, wie unter guten Geschäftsfreunden üblich, wurden wir mit Handschlag und Vornamen begrüßt,
wann immer wir auftauchten. Der "Kingfisher" (eigentlich indische Biersorte und Restaurantkette) belieferte uns prompt mit
Strandliegen und Sonnenschirmen. Im Gegenzug wollte er jedoch seine neu gewonnenen Liegefreunde in seiner Strandkneipe
bewirten. Diesen unausgesprochenen Zusammenhang verstanden wir und kehrten ein. Die Freundschaft trübte sich etwas, als er
nach der Bestellung von zwei Kaffees und einem Orangen-Juice zwei rabenschwarze Tees und einen Mangosaft brachte, der wohl
über den längeren Aufenthalt außerhalb seiner Schale zu Recht sauer war. Der Kingfisher war wohl etwas gestresst - es war
ein zweiter Tisch besetzt.
Der zweite Strandmanager handelte mit Steinen und begrüßte uns mit der in einem offensichtlich längeren Selbststudium
eingebrannten typisch deutschen Frage "alles o.k ?". "Alles o.k." hat nichts an uns verdient, obwohl er zweifellos das
breiteste Lächeln aller Geschäftspartner hatte. Mit dem dritten business-man, der eher unauffällig agierte, sich aber den
Namen Lena am längsten merken konnte, schlossen wir einen Halsketten-Deal. Irgendwie sah er nach dem Kettenkauf hoch
zufrieden aus, obwohl wir einen warmherzig empfohlenen Teppich ausgeschlagen hatten.
Im Restaurant des Hotels mangelte es uns an nichts. Vorzügliche europäische und asiatische Speisen im Ein-bis-zwei-Euro-
Bereich, guter indischer Riviera (Rotwein), die wärmende indische Sonne, Baden im Swimmingpool und Meer, Faulenzen am
Strand, an dem von fliegenden Händlern pausenlos nützliche Dinge wie Trommeln, Tücher, Austern, Eis und Ananas angeboten
wurden, trugen zu einer guten Grundstimmung bei.
Ein Besuch des nahe gelegenen Marktes in Margao nutzten wir nicht nur zum Einkauf, sondern uns auch mit den Menschen in den
Geschäften und auf der Straße vertraut zu machen sowie Eindrücke mit der Digitalkamera festzuhalten. Überraschend für uns
war die stetige Freundlichkeit der Inder. Trotz zumeist bitterster Armut ist, war bis auf wenige bettelnde Ausnahmen, bei
den meisten ein fast kindliches Interesse an touristischen Bleichgesichtern zu spüren. So lautete auch die meist gestellte
Frage: "Wie heißt du?".
Die Herzlichkeit der Inder erklärt sich wohl auch überwiegend aus den Wurzeln des Hinduismus, dem immerhin 80% der
indischen Bevölkerung treu bleiben. Unser Reiseführer erklärt dazu folgendes:
Vor mehr als 3000 Jahren drangen die aus Zentralasien kommenden Arier in Indien ein und unterwarfen die dravidische
Urbevölkerung. Glaubensvorstellungen der Arier (Naturgötter wie z.B. Surya (Sonne), Candra (Mond) und Indra (Gewitter)
wurden mit denen der von den Indern verehrten Göttern vermischt. In den "Vreden", der heiligen Schrift, sind die Hymnen
(Rituale) zusammen gefasst. Nach diesen Schriften wurde die erste Phase des Hinduismus (ca. 1500 bis 1000 vor Christi) als
Vedismus bezeichnet. Auf den Vedismus folgte der Brahmanismus (ca. 1000 bis 500 vor Christi). In dieser Phase entwickelten
sich die bis heute gültigen Glaubensprinzipien des Hinduismus. Mit dem Aufkommen des allumfassenden Schöpfergottes Brahma
verloren die alten Naturgötter an Bedeutung. Gleichzeitig wuchs mit den immer komplizierter werdenden Opferritualen, die
die zentrale Rolle der Religionsausübung einnahmen, die Macht des Priesterstandes. Die Brahmanen standen auf Grund dieses
Wissensmonopols an der Spitze der hierarchisch geordneten Gesellschaft. Ihnen folgten die Kshatriyas (Krieger und Adel),
die Vaishyas (Bauern, Viehzüchter, Händler) und die Shudras (Handwerker, Tagelöhner). Aus diesen vier Gruppen entstand das
heute noch immer gültige Kastensystem Indiens, das besonders auf dem Land eine größere Rolle spielt. Die Unberührbaren, die
früher aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden, gehören nicht zum Kastensystem. Noch vor 50 Jahren musste sich ein Brahmane
tagelangen Reinigungsritualen unterziehen, wenn er nur vom Schatten eines Unberührbaren getroffen war.
Auf Grund der immer komplizierter werdenden Regeln wurde das Volk empfänglich für andere Glaubensrichtungen. In dieser Zeit
entstanden zwei neue Religionen (Buddhismus, Jainismus), die vom Priestertum unabhängige Wege zur Erlösung aufzeigten. Als
Reaktion des immer stärkeren Zulaufs zum Buddhismus erfolgte eine Rückbesinnung auf die Ursprünge der Veden, die in der
Verschmelzung mit den Erkenntnissen des Brahmanismus zur Herausbildung des heute praktizierten Hinduismus führte.
Kerngedanke des Hinduismus ist der Glaube an einen ewigen Schöpfergeist oder eine Weltseele (brahman), aus der alles Leben
und die Weltordnung hervorgeht. Den zweiten Grundpfeiler bildet die Vorstellung von der Reinkarnation, der Wiedergeburt der
unsterblichen Seele. Der Tod ist nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur neuen Existenz. Der Tod ist damit für Inder ein
weniger einschneidendes Erlebnis!
Ziel jeden Lebewesens oder der Einzelseele (atman) ist moksha, die Erlösung aus dem Geburtenkreislauf und die Vereinigung
mit dem brahman, der Weltseele. Den Weg zu diesem Ziel kann jeder einzelne selbst bestimmen, in dem er sich in jedem seiner
Leben so weit wie möglich an die Regeln der göttlichen Ordnung (dharma) hält. Wer diesen Dharma-Gesetzen entsprechend lebt,
rückt mit jeder Wiedergeburt auf einer höheren Stufe der Erlösung jeweils ein Schritt näher. Fällt die Gesamtbilanz am
Lebensende negativ aus, so wird dies mit einer niederen Wiedergeburt bestraft. Dieses Vergeltungsprinzip (Karma) bildet auch
die Erklärung für das Kastenwesen, das jedem Menschen entsprechend seinen Verdiensten bzw. Verfehlungen im vorigen Leben
einen festen Platz in der sozialen Rangordnung zuweist. Jede der insgesamt über 3000 Kasten und Unterkasten hat ihr eigenes
dharma, dementsprechend sich das jeweilige Kastenmitglied zu verhalten hat. Die Pflichten eines jeden sind in den Dharma-
Büchern beschrieben (das Manu ist das bekannteste).
Als Haupttugenden gelten:
· Die Heirat innerhalb der eigenen Kaste
· Die Ausübung eines nur für die eigene Kaste erlaubten Berufes
· Einnehmen von Mahlzeiten nur mit Mitgliedern der eigenen Kaste
Da für Hindus alles Leben auf Erden Ausdruck der göttlichen Ordnung ist, kann der Mensch durch Fehlverhalten auch als Tier
oder Pflanze wiedergeboren werden. Wenn man Korn stiehlt, wird man zur Ratte, bei Wasser zum Wassertier, bei Honig zur Mücke
und bei Süßigkeiten zum Hund. Die klaglose Akzeptanz der Regeln, bestärkt durch das Karma, gehört zu den Grundmerkmalen des
hinduistischen Glaubensverständnisses. Daraus resultiert offensichtlich die Schicksalsergebenheit und die Bescheidenheit der
Inder.
Am 01.02.05, 6.30 Uhr brachen wir mit einem bestellten Taxi zum Flughafen auf, um noch weiter in den Süden Indiens
vorzudringen. Nach einer guten Stunde mit der Air India landeten wir ca. 1000 km südlicher in der 35 Grad heißen Hafenstadt
Cochin, wo wir mit unserem Gepäck von einem kleinen Fahrer in ein ebenso kleines Auto (Tata - indische Marke) mit
erfrischender Klimaanlage eingeladen wurden. Unser Steuermann, der vorzugsweise malayalamisch sprach und eine englische
Konversation auch von seiner Seite stockte, sollte uns 8 Tage begleiten. Da wir für eindeutige Handbewegungen und
internationale Notbezeichnungen wie Pipi keine Übersetzungen brauchten, klappte die Verständigung bis auf wenige Ausnahmen
ganz gut. Auch war er kein Verfechter der Leisetreter. Wenn er über etwas schimpfte, tat er das mit der Schnelligkeit eines
Trommelfeuers. Im Auto ließ er dagegen seine Hupe sprechen. Von Cochin ging es hinauf in die Berge.
Bei einer kleinen Pause lernte ich die durstlöschende Milch und das saftige Innenfleisch einer frisch aufgeschlagenen
Kokosnuß schätzen. Für ganze 6 Rupien (etwa 12 Cent) hätten noch weitere 2-3 trockene Kehlen versorgt werden können. Lena,
die sich hier zwar fotografieren ließ, schmeckte es, wie auch ihrer Mutter, eher weniger. Vorbei an Bananen-, Kaffee-,
Mango-, Gummi-, Kakao- und Cashew-Bäumen jonglierte uns unser Fahrer auf schmalem, kurvenreichem und durchlöchertem Asphalt
zum Reich der Teeplantagen, wo wir im 1524 m hoch gelegenen Hotel Tea-County am Rande der 10.000 Einwohner zählenden Stadt
Munnar abgesetzt wurden. Das von Grün umgebene und mit Granit und Holz durchsetzte Hotel machte einen perfekten Eindruck.
Für das Umfeld gab es eine Reihe von Gärtnern, die jedes heruntergefallene Blatt von Hand auflasen, den Rasen und die Hecken
augenscheinlich mit der Nagelschere schnitten und alle Pflanzen liebevoll hegten und pflegten.
Am Nachmittag verfielen wir wieder den Gewürzläden, in denen aber auch der Tee in Vielfalt und Menge mithalten konnte. In
einem solchen Geschäft rutschte Lena plötzlich zusammen und blieb reglos auf dem Abtreter liegen. Die Mischung aus der
scharfen indischen Kost, der Hitze und der Abgase war wohl etwas heftig. Die drei Verkäufer und andere Passanten liefen
zusammen, beugten sich sehr besorgt über das blasse Kindergesicht mit den seltenen blonden Haaren und riefen flüchtige
Begriffe wie doctor, help und water in den Himmel. Mit den bewährten Maßnahmen Beine hoch und vorsichtigen Ohrfeigen wachte
Lena Gott lob nach einigen Schrecksekunden auf, schlug dann aber die Augen vor Angst weit auf, da lauter fremde schwarze
Gesichter über ihren Kopf kreisten. Im sonnigen Süden Indiens sind die Inder noch ein ganzes Stück dunkelhäutiger.
Am nächsten Morgen besuchten wir die Teeplantagen, in denen immer mal wieder eine Gruppe schwitzender Teepflücker
auftauchte und trotz sengender Hitze die noch jungen Teeblätter mit einer Spezialschere schnitt. Erste Erkenntnisse über
die Verarbeitung erhielten wir im Teemuseum, in dem eine kleine Anlage aufgebaut war. Zunächst wird der Tee an der Luft
getrocknet, geschnitten oder gerollt (in dem Falle sieht er aus wie ein Haufen Ameisen, ist aber edler), über Walzen noch
kleiner geschnitten und in einem Fermentierungsrohr (ca. 30 Grad und 40 min Verweilzeit) oxydiert. Aus Grün wird dabei auf
ganz natürliche Weise braun. (Dieser Prozeß gleicht dem Braunwerden eines angeschnittenen Apfels an der Luft) Anschließend
wird die braune Masse getrocknet und gesiebt. Erste Erkenntnis: je feiner der Tee, desto stärker ist er; je gröber, desto
besser ist das Aroma (der Ameisenhaufen hat also ein gutes Aroma) Zweite Erkenntnis: Grüner Tee wird nicht fermentiert.
Am Nachmittag spazierten wir durch die Teefelder bis hin zu einem abgelegenen Dorf, in dem sich offensichtlich nur die
älteren Einwohner an Blaßgesichter erinnern konnten. Wir wurden im Nu zur Schlagzeile, etwa 15 Kinder bestürmten uns, wir
verteilten mitgenommene Gummibärchen. Nach einigem Zögern kamen auch die Erwachsenen aus den Hütten, so dass sich wohl alle
30 Dorfbewohner zusammenfanden und sich fragten, woher die kleinen Blitze kamen. Nach Aufklärung kam es schließlich zu einem
Gruppenfoto, bei dem nach jedem Blitz gejubelt wurde. Einige der Dorfjungen begleiteten uns dann bis in die Nacht hinein und
gaben uns zum Abschied - einen Handkuss.
Am nächsten Tag verließen wir nach dem Frühstück Hotel und Berge in Richtung Cochin. In dieser auf mehreren Inseln
verteilten 700.000 Einwohner zählenden Stadt besuchten wir die St. Francis Church, die erste europäische Kirche auf
indischem Boden, in der der portugiesische Seefahrer Vasco de Gama nach seinem Tod am 24.12.1524 beigesetzt wurde. (14 Jahre
später wurden seine Gebeine nach Portugal exportiert.) Weiter konnten wir die chinesischen Fischernetze bestaunen. Riesige
Netze, die zwischen einer komplizierten Holzkonstruktion gespannt sind, werden vom Ufer ins Wasser gelassen, 5 bis 10
Minuten in der Strömung gehalten und von mindestens 4 kräftigen Männern herausgezogen.Es muß wohl an uns gelegen haben, dass
die Fangquote mit 1 Hering/ 100m² Netz fischfreundlich niedrig ausfiel.
Am Nachmittag trafen wir am eigentlichen Bestimmungsort in der 270.000 Seelen zählenden Stadt Allepey ein. Unser kleines
gemütliches Hotel mit Namen "Keraleyam" lag direkt an den "Backwaters", einem schon über viele hundert Jahre altem, weit
verzweigtem Netz von malerischen Lagunen, Seen und flachem Schwemmland. Allerdings war unser Zimmer ohne Fenster, dafür mit
nichtfunktionierender Klimaanlage und mit scharfem Rauch erfüllt. Ein Moskitoexperte hatte eine Schale mit Kohlenglut unter
den Betten und Vorhängen geschwenkt. Bei 90 Grad Luftfeuchtigkeit und 35 Grad Wärme hatte der Schlafraum das richtige Klima,
um auch die letzte Pore zum Mitschwitzen zu begeistern. Unser Leiden nahm ein Ende, als der Generator plötzlich ansprang und
die Air-Condition in Gang setzte. Nach einem Kerala-Frühstück (Hirse mit Früchten, Gemüse und Kokosflockensoße) fuhren wir
mit der Autoriksha in die Stadt, um uns dort das Treiben der Leute, die Geschäfte und die Marktgassen anzuschauen.
Allerdings war es so feuchtheiß, dass Lena und ich (Roswitha verträgt ein paar Grad mehr) von Schatten zu Schatten huschten
und die wenigen Geschäfte mit Klimaanlage ins Herz schlossen.
Wie wir am Nachmittag erfuhren, hatte sich unser Hotel auf Ayurveda, auf das Wissen vom langen Leben spezialisiert. Die
Harmonie von Geist, Körper und Seele, sowie eine gesunde Lebensweise (kein Fleisch, Nikotin und Alkohol) stehen dabei im
Vordergrund. Die wichtigste Behandlungsmethode der ayurvedischen Medizin sind die Massagen mit Pflanzenölen und Kräutern. Da
wir im allgemeinen lebensbejahende Menschen sind, ist es nur folgerichtig, dass wir nichts gegen eine Lebensverlängerung
haben und meldeten uns an, nach indischer Art in Männlein und Weiblein getrennt. Der Anblick des Massageraums flößte mir
schon Respekt ein und ohne Kleidung (bis auf einen Papierstreifen) und Brille fühlte ich mich schwach und ausgeliefert. Auf
einem Tisch, der die beängsti-gende Form eines Zerlegebrettes mit umlaufender Ablaufrinne hatte, wurde ich mit einem warmen,
nach Erdnuß riechendem Öl mariniert. 2 Masseure begannen nun gleichzeitig, dieses Öl nach einem festverabredeten Rhythmus
mit sanftem Druck auf Brust, Rücken und Gliedmaßen zu verteilen. Nach etwa einer halben Stunde des Dösens empfand ich
durchaus, dass ich der Harmonie zwischen Geist, Seele und Körper etwas näher gekommen war, verstärkt durch die wärmenden,
sanft goldgelben Sonnenstrahlen und das Gezwitscher der exotischen Vogelwelt. Entspannt und gut geölt konnten wir an diesem
Abend das frisch geräucherte Bett besser ertragen.
Am nächsten Tag stand eine Tagestour mit dem Hausboot auf dem Programm. Um 12.00 Uhr betraten wir eine umgebaute
rattangedeckte Reisbarke mit Tisch, Stühlen und Sesseln im offenen Bugbereich, einem Schlafzimmer mit Dusche in der Mitte
und einer kleinen Küche im Heck. 3 Bootsleute versorgten uns mit Speisen, Getränken und dem richtigen Kurs durch die
verwirrenden Backwaters. Die vorbeigleitende Landschaft mit den grünen Kokospalmen, Bananen- und Mangobäumen faszinierte
uns ebenso wie die auf den bis zu 5 m schmalen Landzungen, in kleinen Hütten lebenden Keralaner, die sich mit Reisanbau,
Fischen und Enten über Wasser halten und die Backwaters als Verkehrsadern, aber auch zum Baden, Wäsche- und Geschirrwaschen
bis hin zur Entsorgung von Abfällen nutzen. Am späten Nachmittag erreichten wir einen großen See und gingen dort vor Anker.
Da dort die Verunreinigung nicht ganz so schlimm schien und sich die Plastiktüten offensichtlich abgesetzt hatten, schwammen
wir ein paar kleine Runden ums Boot und aßen Abendbrot, zu dem der besorgte Koch ein kühles Bier servierte (ein wirkliches
Highlight, das aus dem sonst üblichen lauwarmen Wasser deutlich herausragte). Nach einem kleinen Landspaziergang legten wir
uns schließlich schlafen. Es erwartete uns ein kleines Doppelbett mit Moskitonetz und eine dünne Matratze, die in den
schmalen Gang zwischen Bett und Bad gepfropft wurde. Als opferbereiter Vater nahm ich die zugewiesene Aufbettung an, öffnete
auf Geheiß des Käpt'ns die Fenster und schlief zufrieden ein.
Der Schlaf war wohl von kurzer Dauer, da noch vor Mitternacht ein Gewitter nahte, das mit beunruhigend vielen Blitzen und
Böen das Boot immer mal gegen das Steinufer schlagen ließ. Da es nicht regnete, es aber noch schwüler wurde, war ein
Schweißausbruch nicht mehr zu bremsen. Trotz der Räucherspirale unter dem Doppelbett, deren Funktion ich ab und zu mit
einem Schwall an bitterem Rauch im Gesicht mit zweifelhafter Dankbarkeit registrierte, wurde ich darüber hinaus zum
Leckerbissen einiger rauchresistenter Moskitos gewählt. Gegenwehr fruchtete kaum, da mir zum Zuschlagen der Platz fehlte.
Einige Versuche führten dazu, dass sich unter mir das durchschwitzte Laken zu einem harten Knäuel zusammenzog und das nackte
Kunstleder freigab. Jede kleine Bewegung wurde nunmehr mit dem Geräusch und dem Schmerz des Abreißens eines Heftpflasters
bestraft. Ein verzweifeltes Duschen mit dem leicht fauligen Seewasser brachte auch nur kurze Linderung. In der zweiten
Nachthälfte dominierten immer wieder ungewohnte Geräusche wie etwa ein Donnern an der Bordwand (ein irritierter Großfisch?)
oder ein lebhafter Disput malayalamisch sprechender Fischer in ihren Booten bis hin zu den geheimnisvollen Rufen
nachtaktiver Tiere. Nachdem ich zu allem Überfluß bemerkte, dass ich als leicht überwindbares Hindernis in einer
vierspurigen Ameisenstraße lag und wegen des Kribbelns ein zweites Mal duschte, glaubte ich endlich, die Nacht überstanden
zu haben, als ich die Hähne krähen hörte. Aber auch in diesem Fall musste ich meine Erfahrungen sammeln. Indische Hähne
krähen eben, wenn sie Lust haben - ihnen ist also nicht zu trauen.
Noch ganze zwei Stunden musste ich mich mit dem Gemisch aus Schweiß, Rauch, Moskitos, Ameisen, jaulenden Hunden und den
Strophen des in der Ferne singenden Muezzins arrangieren, ehe der Morgen anbrach und die Qual ein Ende hatte. Roswitha und
Lena hatten gut durchgeschlafen. Nach dem Frühstück verließen wir das Hausboot und fuhren nach Kovalam, zum südlichsten
Punkt unserer Reise. Auf dem Weg dahin sahen wir uns ein Fischerdorf an, in dem an einer Stelle der Tsunami den Damm
durchbrochen und ca. 200 Menschen in den Tod gerissen hatte. Die Kraft des indischen Ozeans war trotz Windstille irgendwie
zu spüren. In einer Hütte, in der das Wasser ca. 2 m hoch gestanden hatte, wurden wir auf Vermittlung unseres Fahrers zum
Tee eingeladen. In dieser Familie, bestehend aus einer Mutter mit Sohn, Schwiegertochter und zwei Enkelkindern, gab es
gottlob keinen Toten zu beklagen. Die kleine, aber massive Hütte bestand aus einer verräucherten Kochnische und zwei
weiteren winzigen Räumen ohne jedes Fenster, in die sich die drei Generationen teilten. Ein Bild von der verstorbenen
Großmutter hing über der Schlafpritsche und war der einzige Schmuck im Raum. In diesem Moment wurde uns bewusst, wie
bitterarm doch viele Inder sind. Sie werden in das Elend hineingeboren und sind ohne fremde Hilfe gänzlich chancenlos. Einen
kleinen Trost gab es dennoch. An der Stelle der Unterkünfte, die in der ersten Reihe gestanden hatten und vom Tsunami
zerstört wurden, gab es neue Hütten, natürlich auch ohne Fenster.
Keine 20 km weiter kamen wir nach Trivandrum, der Hauptstadt Keralas mit ca. 860.000 Einwohnern. Dort besichtigten wir den
Padmanabhaswamy-Tempel. Als Nicht-Hindu hatten wir keinen Zutritt zum Inneren des Ende des 18. Jh. erbauten Heiligtums,
konnten aber doch das 7- stöckige, mit eindrucksvollen Figuren verzierte Bauwerk mit den 101 Steinsäulen von außen
bewundern.In Kovalam, einem ehemaligen Fischerdorf, dominierten eher die Touristen-Hochburgen. Mit dem Hotel Udra Samudra
erwischten wir eine sehr angenehme Unterkunft am Meer mit perfekter Klima-Anlage, 2 tiefblauen Swimmingpools und
topgepflegten Anlagen, keine 40 km von "unserer Armenhütte" entfernt. Ein Kontrast, der nachdenklich macht, aber wohl
gerade in Indien zur "Normalität" gehört. Nach 2 Tagen luxuriöser Entspannung brachte uns unser Fahrer zum nahe gelegenen
Flughafen und verabschiedete sich von uns. Nach 1½ Stunden Flug landeten wir sicher in Bombay, 3 Stunden später erreichten
wir wieder Pune, wo wir von Nawathes herzlich empfangen wurden.
Am letzten Tag unserer Reise durften wir uns auf Grund verwandtschaftlicher Beziehungen Nawathes zum Chef eine Manufaktur
besehen. Im Drei-Schicht-System arbeiten dort ca. 500 Leute an überwiegend deutschen Werkzeug-maschinen und stellen
Zahnräder für Autos und Traktoren her. Solch eine zumeist kleinteilige Produktion, die sehr flexibel nach Bedarf umstellen
kann, hat dank des hohen Arbeitskräfteeinsatzes und der niedrigen Löhne eine sehr gute Chance auf dem Markt. An 300 Tagen
im Jahr (zusammenhängender längerer Urlaub ist nicht üblich) wird für ca. 2 Euro/ Stunde gearbeitet. Kranken-, Renten- oder
gar Arbeitslosenversicherung - Fehlanzeige. Besserverdienende können sich eine Unfallversicherung leisten. Dafür gibt es in
Pune (Ländersache) einen Mehrwertsteuersatz von 35%. 2% der Inder bezahlen überhaupt Einkommenssteuer (Staatssache,
Höchstsatz 30%). Unweigerlich ist zu erkennen, dass Indien kaum zu regieren ist. Dies ist auch an den staatlichen Aufgaben
wie Müllabfuhr oder Energieversorgung festzustellen - es klappt nicht oder mit vielen Störungen. Das von der Regierung
gewünschte Privatisieren kommt schleppend oder gar nicht voran. Die Mitarbeiter in den staatlichen Betrieben würden Pfründe
verlieren, stellen aber ein nicht zu unterschätzendes Wählerpotential dar.
Am nächsten Tag nahmen wir von Nawathes mit großer Dankbarkeit Abschied. Sie hatten uns sehr verwöhnt und uns eine
traumhafte Reise perfekt organisiert. Es wird hoffentlich ein baldiges Wiedersehen in Deutschland geben.
Von Bombay flogen wir mit einer Stunde Verspätung los. Der russische Pilot gab aber Gas, so dass wir eine halbe Stunde
aufholten und es tatsächlich schafften, innerhalb von 30 min. in die Maschine nach Berlin umzusteigen. Das Gepäck war nicht
so schnell und wurde drei Tage später, aber vollständig nachgereicht.
Wir sind uns einig. Wenn noch einmal die Sterne günstig stehen, wir sind dabei - in Indien.
Merseburg, den 30.03.2005